Interview mit dem Agrarökonomen
Dr. Philipp von Gall
I.
Ihre Einstellung und Stoßrichtung einer tiernutzungskritischen Perspektive scheint in ihrer akademischen Disziplin (Agrarökonomie) eine Randstellung einzunehmen. Wie sind sie zu genau diesem kritischen Ansatz gekommen und wie erfahren sie den Diskurs dazu in ihrem Fach?
Mir scheint, das Nachdenken über unser Verhältnis zu Tieren, ihr Leid, Veganismus, usw. wurde traditionell in der Agrarökonomie als Etwas zwischen naiv-emotional und bedrohlich wahrgenommen. Umweltschutz ist einfacher, weil man inzwischen anerkannt hat, dass der allen Menschen zugute kommt. Aber was ist ein Tierleben wert, wenn es nicht verkauft wird? Das scheint zu viele Probleme zu bringen, als man in der Ökonomie bereit oder in der Lage ist zu lösen. So dass es Agrarökonom*innen lieber ganz ausblenden. Das Stereotyp des Tierschutz als emotional und naiv ist allgemein verbreitet. Doch in der Agrarökonomie paart sich das noch mit ethischen Unsicherheit: “Das rüttelt an den Grundsätzen der Berechenbarkeit.” Und Berechenbarkeit ist sozusagen das klassische Paradigma der Agrarökonomie.
Nach dem Studium habe ich in der Politikberatung zunächst im Verbraucherschutz gearbeitet. Durch ein berufliches Projekt zum Tierschutz wurde mir dann auf einmal klar, wie sehr der Agrarsektor die Debatte blockiert, auch mit dem Verweis auf landwirtschaftlichen „Sachverstand“. Ich wollte unbedingt an die landwirtschaftliche Fakultät der Humboldt Universität zurückzukehren, auch um mir selbst ethische Klarheit zu verschaffen und diesen Sachverstand zu hinterfragen. Aber ich wusste, ich brauche dort, um gut inhaltlich arbeiten zu können, die Rückendeckung der Philosophie. Und die habe ich durch Personen außerhalb der Agrarfakultät bekommen, die mein Projekt interessant fanden. Die haben mich an die Hand genommen und mir relevante philosophische und kritische Arbeiten nahegelegt. Im Nachhinein wurde mein Bild der Tierhaltung durch die Erweiterung – oder Überwindung – der agrarökonomischen Perspektive erst rund und stimmig.
II.
Zu beschönigenden und abwertenden Termini in der Tiernutzungsindustrie und unserem alltäglichen Sprachgebrauch haben sie ein kritisches Wörterbuch publiziert. Was wünschen Sie sich hinsichtlich sprachlicher und praktischer Transparenz seitens der Regierung und seitens der Interessensverbände?
Es muss dringend deutlicher werden, welche Begriffe einen Zustand beschreiben, und welche Begriffe ethisch geprägt sind. Die Begriffe der “artgemäßen” oder “tiergerechten” Tierhaltung, auch “Tierwohl”, sind Zwitter-Begriffe, denn sie haben deskriptive Elemente, insofern sie auf die Natur der Tiere abzielen; und sie haben ethische Grundlagen, weil sie auf das gute Leben der Tiere verweisen. Diese zweite Komponente ist oftmals den meisten Menschen unklar. Die Politik muss solche Begriffe in den Grundlagen des Tierschutzesrechts klären. Grundsätzlich gilt: Deskriptive Elemente sind eine Sache für Expert:innen; Über die ethisch-normativen Fragen muss sich eine Gesellschaft einig werden. Die Debatte muss von der Politik ausgehen, sie sollte ein Interesse an der Klärung haben. Das wurde bisher versäumt und die Penetranz, mit der diese Unklarheit der Begriffe politisch, aber auch rechtlich unaufgelöst bleibt, führt mich zu der Erklärung, dass der Anschein technisch-wissenschaftlicher Begriffe verwendet wird, um problematische ethische Diskussionen fernzuhalten. Das aber wäre perfide.
III.
Ausdrücke wie „tiergerecht", „artgerecht" oder „verhaltensgerecht" wurden laut ihrer Recherche im Zuge der Reform des Tierschutzgesetzes im Jahr 1972 von politischen Akteuren aus dem Umkreis der landwirtschaftlichen Interessenvertretung lanciert. Welche Begriffe sollten auf diese Art vermieden werden und in welchem Maße wirkt sich diese sprachliche Veränderung auf den heutigen politischen Diskurs aus?
Allgemein verständlichere Begriffe, die im Tierschutz damals schon sei dem 19. Jahrhundert angewendet wurden, waren zum Beispiel “Quälerei”, auf auch “Leid”, “Schmerz”, “Pein”, usw. Indem man positive, noch dazu technisch anmutende und daher moralisch unverfängliche Begriffe geschaffen hat, ließ sich der gesamte Diskurs neu framen, wie wir heute sagen wurde.
Aus der “qualvollen” Haltung wird die “nicht artgemäße” oder “nicht verhaltensgerechte” Haltung. Wer kann schon sagen, was “nicht artgemäß” ist? Was Quälerei ist, weiß dagegen jeder. Könnten wir für Menschen eine Lebensform definieren, die “menschengerecht” wäre? Hier sehen wir die Abstrusität dieser Begriffe. Reine Kunstformen, aber Richer*innen, Staatsanwält*innen oder Ministerialbeamte üben sich seit 50 Jahren darin, sie richtig zu lesen, meist ohne Erfolg. Das erinnert mich immer an das Märchen Des Kaisers neue Kleider von Hans Christian Andersen. Alle stehen staunend und hochachtungsvoll um diese Begriffe herum, wie um den “Hauch von Nichts” des Kaisers, nur niemand traut sich auszusprechen, dass sie leer sind.
IV.
Wie schätzen Sie den Einfluss ein, den Interessenvertreter:innen aus der Tierindustrie auf die gesellschaftliche Debatte und die Gesetzgebung zur Tierhaltung ausüben?
Jeder politische Interessenverband kann so gut arbeiten, wie es ihm seine finanziellen Ressourcen erlauben. Es ist eine Mär zu glauben, dass durch das viele Ehrenamt und die Spenden im Tierschutz ausgeglichen werden kann, was die großen Industrien an Geld und damit Macht mitbringen. Es gibt hier keine ermutigenden Geschichten wie bei “David gegen Goliath”. Das Geld entscheidet, wie viele gut ausgebildete Leute ich an juristisch präzise Gesetzestexte und an politische Kampagnen ansetzen kann. Tierschutzvereine werden zwar an die runden Tische geladen, aber können sich nicht auf diese Weise vorbereiten, wie es Wirtschaftsverbände tun, und sie bekommen vielleicht auch nicht das Gehör. Es gab immer schon den Richtungsstreit innerhalb des Tierschutzsektors, einige fordern mehr, die anderen finden das zu weitgehend oder “unrealistisch”, usw. Das lähmt ungemein. Wirtschaftsverbände hatten das Problem bisher nicht so sehr, die scheinen besser organisiert.
V.
Momentan nimmt das Bundministeriums für Ernährung und Landwirtschaft eine Doppelrolle ein, aus der sich ein politisch fragwürdiger Interessenkonflikt ergibt. Die Mitarbeitenden sollen die objektive Informierung der Öffentlichkeit über die tatsächliche Situation der Tierhaltung vornehmen. Gleichzeitig sind sie mit der staatlichen Förderung, darunter auch der Absatzförderung, der tierhaltenden Landwirtschaft betraut. Wie wirkt sich die Synthese dieser beiden Aufgabenbereiche aktuell aus?
Der Deutsche Ethikrat hat das sehr diplomatisch formuliert:
“Im Sinne der […] Verantwortung ist nach Lösungen zu suchen, wie Tiere und ihre berechtigten Belange besser
„repräsentiert“ werden können. Für den Prozess der Gesetzeskonkretisierung sind klare, rechtsverbindliche Ergebnisse
garantierende Verfahrensformen mit transparenten Beteiligungsstrukturen vorzusehen. Institutionalisierte Interessenkonflikte und einseitige Besetzungen sind zu vermeiden. Schon die Zuständigkeit des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft für Tierschutzfragen ist in diesem Sinne problematisch. “Das heißt übersetzt: Wenn über Tierschutz entschieden wird, sollte auch die politische Stimme der Tiere berücksichtigt werden. Tiere werden heute je nach Lust und Laune durch private Vereine vertreten, es gibt keine staatlich legitimierte und geregelte Vertretung. Das BMEL ist für sein Eintreten für die Belange der Land- und Ernährungswirtschaft bekannt. Dieses Ministerium sollten deshalb nicht jene Regeln verfassen, die Tiere vor der landwirtschaftlicher Ausnutzung schützen sollen.
VI.
Werfen wir zum Abschluss einen Blick in die Zukunft: Was muss geschehen, um einem tiersensiblen, anthropozentrismus-kritischen Bewusstsein in unseren Institutionen Vorschub zu leisten?
Es braucht eine geregelte politische Vertretung der Tiere in der Legislative und der Exekutive. Juristisch muss erstmal eine Rechtspersönlichkeit für Tiere geschaffen werden, denn nur so können sie in Verfahren vertreten werden. Das ist nicht absurd, denn vertreten werden die Bedürfnisse der Tiere, zumindest politisch, heute schon. Aber alles ist ungeregelt und damit der Willkür preisgegeben. Auch Tierschutzvereine müssen deutlicher die Rolle definieren, die sie spielen: Wenn sie politisch engagiert sind, müssen sie zunächst die objektiven Interessen aus Sicht der Tiere klar benennen; auch wenn die aus heutiger Sicht weitgehend erscheinen. Neulich sagte ein offizieller Tierschutzbeauftrager eines Bundeslandes, beim Formulieren von Forderungen im Tierschutz sollten stets die “Erfolgsaussichten” berücksichtigt werden. Daher verbiete es sich für den Tierschutz, zum Beispiel einen Fleischverzicht zu fordern. Wenn so etwas passiert, wird aber die Strategie mit dem objektiven Interesse verwechselt. Wenn alle nur “strategisch” fordern, bleiben die objektiven Bedürfnisse und Ansprüche aus Sicht der Tiere, zum Beispiel ihren Überlebenswillen, in der Debatte außen vor. Hört man nun dem besagten Tierschutzbeautragten in seinen Ausführungen zu, denkt man, mit einem halben Quadratmeter mehr im Stall ginge es Tieren schon ganz gut. Durch solche konzeptionellen Fehler trägt der Tierschutz auch seinen Teil dazu bei, dass sich politisch nichts bewegt. Wir brauchen ein Verständnis davon, was es bedeutet, politisch für Tiere zu sprechen.